(Triggerwarnung: Dieser Beitrag erörtert unter anderem wissenschaftliche Ergebnisse zu Burnout, sozialer Isolation, Sterblichkeit und Krebsleiden. Wenn euch diese Themen schwerfallen oder euch aktuell irgendwie stark belasten würden, dann lest bitte nicht weiter.) Seit der Pandemie arbeiten viele von uns weiterhin im Home Office, mache komplett und manche hybrid. Ich arbeite hybrid und komme damit sehr gut klar. Einige wenige Firmen haben ihre Mitarbeiter*innen offiziell zurück ins Büro geholt.
Die sozialen Medien sind voll von Freudentänzen über die schöne neue flexible Arbeitswelt (der Schreibtisch-Akrobat*innen wohlgemerkt 😁). Es werden Lobeshymnen auf die Arbeit von zu Hause formuliert. Die Firmen, die ihre Mitarbeiter*innen gerne wieder vollständig im Büro haben wollen, werden mit teilweise wütenden Statements als altmodisch und rückständig verlacht.
Doch, ihr wisst ja. Wenn sich alle sehr einig sind, fange ich an zu zweifeln. Die Welt ist zu komplex für klare binäre Antworten auf so grundlegende Fragen. Menschen sind zu vielfältig für so deutliche Empfehlungen. Also: Was sagt eigentlich die Datenlage zu den Folgen von Remote Work? Spoiler: Die uneingeschränkten Lobeshymnen sind wahrscheinlich Quatsch...soviel kann ich euch schon verraten.
Die schöne neue hybride Welt: Remote Work hat viele positive Folgen
Wenn ihr Fans von Remote oder Hybrid Work seid, dann scheint die Datenlage zunächst einmal ganz auf eurer Seite zu sein. Eine Meta-Analyse von Gajendran und Kolleg*innen (2021) nutzt die Ergebnisse von über 100 Primärstudien (über 300k Personen) und findet positive Zusammenhänge von Remote Work mit:
höherer Autonomie-Wahrnehmung der Mitarbeiter*innen,
besserer Leistungsbeurteilungen,
höherer Commitment und Engagement,
und niedrigerer Kündigungsintention als ihre Nicht-Remote-Kolleg*innen
Zugleich findet diese Studie keinen Nachweis dafür, dass Remote Work mit verschlechterten Beziehungen zu anderen Kolleg*innen oder verstärkten Konflikten zwischen den Aufgaben bei der Arbeit und im Privatleben zusammenhängt. Eine frühere Meta-Analyse von Gajendran und Harrison (2007) zeichnet das gleiche Bild. Eine andere Überblicksstudie von Martin und Mesler (2012) stößt ins gleiche Horn.
Das bedeutet, dass eine große Menge wissenschaftlicher Studien selbst vor der Pandemie bereits ein sehr positives Bild der Arbeit von zu Hause zeichnet.
Doch bevor ihr jetzt direkt eure Chef*innen anklingelt, atmet nochmal kurz durch. Fragt euch mal: Kann es wirklich sein, dass der rein digitale Austausch zu Kolleg*innen und das Arbeiten von zu Hause wirklich nur positive Folgen haben? Da muss doch irgendwas nicht stimmen. In meiner Erfahrung ist nichts, was mit Menschen bei der Arbeit zu tun hat, immer nur positiv.
Und so ist es auch.
Die negative Seite des Home-Office
Ein Literaturüberblick von Ferrara und Kolleg*innen (2022) zum Thema bezieht auch Studien mit ein, die sich mit der psychischen Gesundheit von Menschen befassen. Auch hier zeigen sich die positiven Ergebnisse der anderen Studien. Allerdings finden sich auch negative Folgen der Telearbeit, wie:
gestiegene Arbeitslast
Rollenunsicherheit
sinkender Identifikation mit dem Unternehmen
weniger effektive Kommunikation mit Kolleg*innen
erhöhte Zahl von Konflikten
mehr Stress und Burnout-Symptome
häufigere Unterbrechnungen durch spontane Anrufe oder Emails
höhere Müdigkeit
Diese Ergebnisse haben meine Neugier geweckt. Also, Google Scholar geöffnet und nach spannenden Studien zu negativen Effekten gesucht.
Und ich fand sie. Bereits 2003 konnten Mann und Holdsworth in ihrer Studie zeigen, dass Telearbeit das Gefühl des Alleinseins fördert. Jeste und Kolleg*innen (2020) bezeichnen Einsamkeit anhand der vorliegenden Datenlage bereits vor der Pandemie als eine Art "moderne Verhaltens-Epidemie". Hwang und Kolleg*innen (2020) argumentieren, dass dies durch die soziale Isolation der Covid-Pandemie noch verstärkt wurde.
Und jetzt haltet euch fest. Eine sehr aktuelle Meta-Analyse von Wang und Kolleg*innen (2023) findet auf Basis von über 2 Millionen Datensätzen deutliche Zusammengänge zwischen Einsamkeit/sozialer Isolation und:
genereller Sterblichkeit
tödlich verlaufenden Krebserkrankungen
tödlich verlaufende Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Das ist eine erschreckende Evidenz, die wir auch im People Management und dem Bereich der Gesundheitsförderung von Mitarbeiter*innen proaktiv diskutieren sollten.
Mein Fazit zu Remote Work
Auf Basis dieser vielseitigen Ergebnislage, fällt mir ein klares Fazit relativ schwer. Ich will es aber dennoch versuchen.
Wenn ihr euch mit der Ausgestaltung von Remote-Angeboten befasst oder bereits hybrides Arbeiten ermöglicht, dann schaut nochmal genau hin. Analysiert, ob ihr bereits genug Anlaufstellen für Kolleg*innen etabliert habt, die mit den emotionalen Folgen von Heimarbeit kämpfen. Nutzt vielleicht die Daten aus den offenen Antworten eurer Mitarbeiter*innen-Befragung. Sprecht regelmäßig miteinander und versucht, mit der gegebenen Vorsicht auf solche themen einzugehen. Bitet möglicherweise einen regelmäßigen Austausch im Büro an, bei dem ihr bewusst zusammenkommt und die direkte Interkation von Mensch zu Mensch lebt.
Es erscheint mir als extrem sinnvoll mit den Kolleg*innen zu sprechen, die für die Gesundheitsförderung der Mitarbeiter*innen zuständig sind. Insbesondere die dramatischen Ergebnisse zu den körperlichen Folgen sozialer Isolation und Einsamkeit geben Anlass zur fundierten und vehementen Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls. Auch Inklusion mag hier eine sehr positive Rolle spielen. Es kann in einem hybriden Setting auch von besonderer Wichtigkeit sein, auf Kolleg*innen einzugehen, die plötzlich und unerwartet eine schwere Zeit (z.B., Verlust eines Familienmitglieds) durchmachen. Klar ist, dass ich in das ungefilterte Loblied auf Remote Work nicht mehr so willentlich einstimme.
Additional information:
This article reflects my personal views only and is not necessarily the view of the companies, I am associated with.
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